Theater der Zeit

Auftritt

Schauspiel Leipzig: Alles wie in Trance

„Woyzeck“ von Georg Büchner – Regie Enrico Lübbe, Bühne Etienne Pluss, Kostüme Bianca Deigner, Video Robi Voigt, Musikalische Konzeption Philip Frischkorn

von Thomas Irmer

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Enrico Lübbe Schauspiel Leipzig

Mehr als ein kanonisches Sozialdrama aus Büchners Zeit: „Woyzeck" in der Regie von Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig.
Mehr als ein kanonisches Sozialdrama aus Büchners Zeit: „Woyzeck" in der Regie von Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig.Foto: Rolf Arnold

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Die Woyzeck-Welle in den Spielplänen hat nun den Ort erreicht, wo vor ziemlich genau 200 Jahren die historische Vorbildfigur Johann Christian Woyzeck öffentlich hingerichtet wurde. Für die sich häufenden Inszenierungen von Büchners Sozialdrama-Fragment wird unter anderem der Lehrplan für die Abiturstufe als Begründung vermutet. Mag so sein. Für einen Besuch des Schauspiel Leipzig dürften sich aber Deutschlehrer:innen nicht nur auf die Behandlung des Stoffs vorbereiten, sondern auch darauf, was zeitgenössisches Theater daraus macht. Vielleicht sogar zusammen mit Büchner-Experten. Denn in Enrico Lübbes Inszenierung gibt es einen älteren Woyzeck, eine schwangere Marie als späte Mutter, dazu eine als Todesbote und Wanderer erfundene Figur, ein nichtnaturalistisches Bühnenbild mit viel Video und eine Schlagzeugerin – alles in einem überzeugend durchdachten Konzept, das dem Lern- und Lehrziel mit einigen Hürden gewinnbringend sein kann. Das Stadtgeschichtliche Museum bietet dazu sogar vorstellungsnah Rundgänge in Leipzigs Innenstadt an, was im Prinzip sehr begrüßenswert ist – bis zu dem Punkt, wo man daran erinnern muss, dass „Woyzeck“ keine Dokufiction ist, sondern Dichtung. Also Sprache als Welt in ihrer mikrogenauen, in diesem Fall aber auch besonders bedeutungsoffenen Durchdringung.

Am Anfang tauchen Marie und Woyzeck aus Bühnennebel auf, sagen, sie müssen weg, aber Woyzeck hält das Messer zitternd schon in der Hand. Ein Einstieg als Flashback für fast alles Folgende, und damit die teilweise aus der Perspektive Woyzecks als wahrnehmungsgestörter Gepeinigter die Geschichte einleitend. Christoph Müller, Jahrgang 1969 und ein einigermaßen beleibter Schauspieler, was hier vielleicht noch verstärkt wurde, spielt nicht den gehetzten Soldaten – der mit nur Groschen werten Nebentätigkeiten in den Wahnsinn getrieben wird – sondern einen im aufrechten Gang Erschöpften. Die Kostümbildnerin Bianca Deigner hat ihm dafür auch keine Soldatenuniform angezogen, wie sonst üblich, sondern blaue Jackett-Schichten überm dicken Bauch – fast bürgerlich und zugleich an die Blaumänner von Service-Personal erinnernd.

Die Marie Bettina Schmidts tritt dagegen in einem dunkelroten langen Kleid auf, das man für diese Woyzeck-Welt nicht für möglich hält. Auch damit überrascht die Regie des Leipziger Intendanten, der „Woyzeck“ eben nicht als kanonisches Sozialdrama aus Büchners Zeit auffasst, sondern als Versuch, über die Hauptfiguren gesellschaftliche Mobbing-Verrohung und Orientierungsverlust in hoffnungsloser Überforderung zu erzählen.    

Etienne Pluss hat Wände mit lauter Türen gebaut, die sich verschieben lassen – hinter jeder Tür eine neue Aufgabe, niemals ein Ausgang zum Weggehen. Robi Voigts Video projiziert in manchen Momenten das, was man auf der Bühne sieht, noch einmal leicht verrutscht. Gestörte Wahrnehmung als subjektive Sicht für alle im Publikum. Ein mehrfach im Text vorkommendes „Immer zu“ wird wie ein Mantra auf die Türenwand projiziert und man die Mehrdeutigkeit dieser Formel ausdeutet.

Das Hören von Stimmen, die Woyzeck als unterirdische Freimaurer-Versammlung vermutet, hat Philip Frischkorn, der selbst ein in der unteren Oktave präpariertes Klavier spielt, zusammen mit der Schlagzeugerin Angela Requena Fuentes in ein musikalisches Konzept übersetzt, mit dem zugleich die rasch wechselnden Szenen gegliedert werden.

Trotzdem wirkt alles wie in Trance ruhig erzählt. Dazu geht eine gespensterhafte Erscheinung durch die Handlung, ein Wanderer mit rotem Luftballon als Todesbote, den Niklas Wetzel mit irrem Lachen und geschminkt wie der Joker in „Batman“ spielt – und der schließlich Woyzeck auch das Messer verkauft (bei Büchner die Mini-Figur eines Juden). Dass der Wanderer mit dem Zerplatzen seines Luftballons Maries Leibesfrucht zerstört, gehört zu den Horror-Momenten, mit denen Lübbe diesen Wahnsinns-„Woyzeck“ versieht.

Dagegen wirkt das große Schlussbild eingängig wie aus den Interpretationshilfen für Schüler und Studenten. Woyzeck und Marie bringen sich in einer Art tödlichen Umarmung gegenseitig um, worauf eine Blutdusche aus dem Bühnenhimmel herunterplatscht. Alle anderen Figuren robben durch diese rote Pfütze und stehen am Ende blutbesudelt an der Rampe. Das ist die visuelle Zusammenfassung von dem, was in den 100 Minuten zuvor in weitaus originelleren Bildern mit diesem verstörenden „Woyzeck“ erzählt wurde.

Erschienen am 2.5.2024

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